Beatrice Rohner, die Statistikerin des Völkermordes

Die Statistikerin des Völkermordes an den Armeniern Beatrice Rohner ist eine faszinierende Person. Obwohl sie tausenden Menschen das Leben gerettet hat, ist sie weitgehend unbekannt geblieben. Sie ist - wie im Folgenden aufgezeigt - eine sehr glaubhafte Zeugin der schrecklichen Geschehnisse des Genozids an den Armeniern. Über ihr Leben und ihr Dienst im damaligen Osmanischen Reich informiert folgender Beitrag, welcher auch im Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon (BBKL) online zu finden ist.

ROHNER, Beatrice, Schweizer Missionarin und wichtige Zeugin des Genozids an den Armeniern. * 23. März 1876 in Basel, † 9. Feb. 1947 in Wüstenrot (Baden-Württemberg). -Nach dem frühen Tod ihres Vaters wuchs Rohner zusammen mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Anni als Halbwaise in Basel auf. Ihre Mutter Maria Magdalena, genannt Mieti Rohner war eine geborene Thoma. Nach Abschluss ihrer Schule mit Reifeprüfung 1894 absolvierte sie das Lehrerinnenseminar und war danach als Hauslehrerin in Paris tätig. 1898 wurde Rohner von der Missionsgesellschaft „Deutscher Hülfsbund für christliches Liebenswerk im Orient“ zunächst als Lehrerin nach Konstantinopel ausgesandt und war ab 1900 als „Hausmutter“ für die Waisenarbeit in Marasch (heute Kahramanmaraş im südlichen Teil Anatoliens) tätig. Ihre Mutter folgte ihr 1908, 1913 ihre Schwester Anni. Sie arbeiteten gemeinsam in der Waisenkinderarbeit. Als es 1915 zu heftigen Verfolgungen und Pogromen gegenüber der armenischen Bevölkerung kam, setzte sich Rohner im Rahmen ihrer Möglichkeiten für die Verfolgten ein. Es gelang ihr bei Djemal Pascha, einem der führenden Regierungsmitglieder des osmanischen Reiches für die armenischen Waisenkinder zu intervenieren. Da sie Schweizerin war, genoss sie einige Freiheiten und konnte nach Aleppo reisen, wo die Verfolgungssituation für Armenier besonders unerträglich war. Djemal Pascha übertrug ihr die Leitung des dortigen armenischen Waisenhauses. In kürzester Zeit war das Waisenhaus wegen der heftigen Verfolgung auf über 1000 Waisenkinder angewachsen. Im September 1916 verfasste Rohner einen ausführlichen Bericht an das Auswärtige Amt in Berlin. Darin listete sie in statistischer Art und Weise die Schrecken der Verfolgung auf. Rohner wurde in ihrer Waisenhausarbeit sowohl vom amerikanischen als auch vom deutschen Konsul unterstützt. Großzügige finanzielle Zuwendungen bekam sie von dem American Board of Commissioners for Foreign Missions (ABCFM) und anderen Hilfsorganisationen. So war es ihr möglich, die Waisenkinder trotz der prekären Situation zu versorgen. Allerdings beschlagnahmten die örtlichen Behörden das Gebäude, so dass sie mit den Waisenkindern in ungeeignete Unterkünfte umziehen musste. Auch blieb die Situation für die Waisenkinder unsicher, da die Türken nach Belieben Kinder aus dem Waisenhaus holten. Da es Rohner untersagt war, die Konzentrationslager im Umfeld von Aleppo zu besuchen, baute sie ein geheimes Hilfs-Netzwerk auf und war somit über die Situation in den Lagern umfassend informiert. Zudem konnte sie über dieses Hilfs-Netzwerk Gelder weiterleiten und auf diese Weise einige Armenier retten. Obwohl ihr das Waisenhaus von Djemal Pascha anvertraut war, deportierten die örtlichen türkischen Behörden im März 1917 die ihr anbefohlenen Waisenkinder gegen ihren Willen ab. Unter dem Eindruck dieser Erlebnisse brach Rohner psychisch zusammen und kehrte nach Deutschland zurück. Nach langer Wiederherstellungszeit war Rohner von 1918 bis 1923 als Reisesekretärin des Deutschen Frauen-Missions-Gebetsbundes tätig. In einigen Schriften verarbeitete sie ihre traumatischen Erlebnisse während des Genozids an den Armeniern. Ab 1933 leitete sie das „Erholungsheim Bethanien“ in Wüstenrot und setzte sich seelsorgerlich für erholungsbedürftige Menschen ein. Nach schwerer Krankheit und Krankenhausaufenthalten starb Rohner im Februar 1947.

R.s literarische Beiträge zur Armenierverfolgung sind unpolitisch und im Duktus pietistischer Frömmigkeit verfasst. Das Grauen der Verbrechen an den Armeniern versucht sie zu erklären, indem sie auf den Mut und die Menschlichkeit einzelner verweist und in kleinen positiven Erlebnissen Gottes Handeln erblickt. Neun Jahre nach der Deportation „ihrer Waisenkinder“ bekam sie die Nachricht, „dass nicht eines dieser vielen Kinder umgekommen oder in den Händen der Türken geblieben sei.“ Diese Nachricht bestärkte sie in der Überzeugung, dass Gott selbst in großen Notzeiten erfahrbar sei.

Es ist das Verdienst von Rohner, während des Genozids an den Armeniern Zeichen der christlichen Nächstenliebe gegenüber der inhumanen osmanischen Politik gesetzt zu haben. Sie intervenierte bei den Behörden und sammelte in subversiver Weise Informationen über die unsäglichen Verbrechen an den Armeniern. In der Forschung wurde für diese Art des Engagements der Begriff „Humanitärer Widerstand“ geprägt. In Anlehnung an diesen Begriff hat man Rohners seelsorgerliche Begleitung und geistliche Stärkung von Verfolgten „Spiritual Resistance“ genannt. Trotz einzelner kleinerer Forschungsbeiträge ist eine umfassende Würdigung ihres mutigen Einsatzes für die Armenier bisher ausgeblieben. Lediglich in dem Dokumentarfilm „Aghet“ wird ihre Zeugenschaft durch die deutsche Schauspielerin Katharina Schüttler gewürdigt. Zum Andenken an Rohner als Kämpferin gegen Entmenschlichung wurde ihr im „Garten der Gerechten“ in Mailand ein Baum gepflanzt. Auf dem dortigen Gedenkstein wird ihr selbstloses Engagement wertgeschätzt